„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mt 27,416)

»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mt 27,46). Das ist die Anrufung Gottes, die uns die Liturgie heute im Antwortpsalm hat wiederholen lassen (vgl. Ps 22,2), und es ist die einzige, die Jesus im eben gehörten Evangelium am Kreuz ausgesprochen hat.

Es sind also die Worte, die uns in die Mitte der Passion Christi führen, zum Höhepunkt der Leiden, die er ertragen hat, um uns zu retten. „Warum hast du mich verlassen?“

Die Leiden Jesu waren viele und jedes Mal, wenn wir die Passionsgeschichte hören, berühren sie uns zutiefst. Es waren körperliche Leiden: denken wir an die Ohrfeigen, an die Schläge, an die Geißelung, an die Dornenkrone, an die Marter des Kreuzes. Es waren seelische Leiden: der Verrat durch Judas, die Verleugnung durch Petrus, die Verurteilungen von religiöser und weltlicher Seite, die Verspottung durch die Wachen, die Beleidigungen unter dem Kreuz, die Ablehnung durch so viele, das gänzliche Scheitern, die Verlassenheit durch die Jünger. Doch in all diesem Schmerz blieb Jesus eine Gewissheit: die Nähe des Vaters. Doch nun geschieht das Undenkbare; bevor er stirbt, schreit er: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«. Die Verlassenheit Jesu.

Dies ist das schmerzhafteste Leiden, es ist das geistliche Leiden: In der tragischsten Stunde erlebt Jesus das Gefühl von Gott verlassen zu sein. Nie zuvor hatte er den Vater mit dem allgemeinen Namen Gott angerufen. Um uns die Wucht dieses Ereignisses zu vermitteln, gibt das Evangelium den Satz auch auf Aramäisch wieder: Dieser ist der einzige von den Sätzen, die Jesus am Kreuz gesagt hat, der uns in der Originalsprache überliefert ist. Das reale Ereignis ist die extreme Erniedrigung, also die Verlassenheit durch seinen Vater, die Verlassenheit durch Gott. Der Herr leidet aus Liebe zu uns so sehr, dass es für uns schwierig ist, es überhaupt zu begreifen. Er sieht den Himmel verschlossen, er erlebt die bittere Grenze des Lebens, den Schiffbruch der Existenz, den Zusammenbruch jeder Gewissheit: er schreit dieses „Warum“ schlechthin. „Du, Gott, warum?“

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Das Verb „verlassen“ ist in der Bibel ein starkes Wort; es taucht in Momenten extremen Schmerzes auf: bei gescheiterter, zurückgewiesener und verratener Liebe; bei verstoßenen und totgeborenen Kindern; in Situationen der Ablehnung, des Witwen- und des Waisendaseins; bei ermüdeten Ehen, beim Ausgeschlossensein von sozialen Beziehungen, bei Unterdrückung durch Ungerechtigkeit und bei Einsamkeit aufgrund von Krankheit: kurz gesagt, bei einem besonders drastischen Zerreißen von Beziehungen. Dort sagt man dieses Wort: „Verlassenheit“. Christus hat dies mitgenommen ans Kreuz, indem er die Sünde der Welt auf sich genommen hat. Und schließlich erlebte er, der eingeborene und geliebte Sohn, diese ihm absolut fremde Situation: die Verlassenheit, die Gottesferne.

Und warum ist er so weit gegangen? Für uns, es gibt keine andere Antwort. Für uns. Brüder und Schwestern, dies ist heute keine Aufführung. Wenn wir von der Verlassenheit Jesu hören, sage jeder von uns zu sich: für mich. Diese Verlassenheit ist der Preis, den er für mich bezahlt hat. Er hat sich bis zum Äußersten mit einem jeden von uns solidarisiert, um bis zum Äußersten bei uns zu sein. Er durchlebte die Verlassenheit, um uns nicht als Geiseln der Verzweiflung zurückzulassen und um für immer an unserer Seite zu bleiben. Er hat das für mich getan, für dich, damit es eine Hoffnung gibt, wenn ich, du oder irgendjemand anders erlebt, dass er mit dem Rücken zur Wand steht, dass er sich in einer Sackgasse verirrt hat, dass er in den Abgrund der Verlassenheit gestürzt ist oder in den Strudel der vielen unbeantworteten Fragen nach dem „Warum“ hineingezogen wurde. Er, für dich, für mich. Es ist nicht das Ende, denn Jesus ist dort gewesen und jetzt ist er bei dir: Er, der die Ferne der Verlassenheit erlitten hat, um in seiner Liebe all unser Fernsein aufzunehmen. Damit jeder von uns sagen kann: In meinem Hinfallen – ein jeder von uns ist viele Mal hingefallen –, in meiner Verzweiflung, wenn ich mich verraten fühle oder andere verraten habe, wenn ich mich verstoßen fühle oder andere verstoßen habe, wenn ich mich verlassen fühle oder andere verlassen habe, denken wir daran, dass er verlassen, verraten, verstoßen worden ist. Und dort finden wir ihn. Wenn ich mich verirrt und verloren fühle, wenn meine Kräfte versagen, ist er mit mir; in meinen vielen unbeantworteten Fragen nach dem „Warum“ ist er da.

So rettet uns der Herr, aus dem Inneren unserer „Warum“-Fragen. Von dort aus eröffnet er uns die Hoffnung, die nicht enttäuscht. Denn als er am Kreuz die äußerste Verlassenheit erlebt, überlässt er sich nicht der Verzweiflung – das ist die Grenze –, sondern er betet und vertraut. Er schreit sein „Warum“ mit den Worten eines Psalms (22,2) heraus und überlässt sich den Händen des Vaters, auch wenn er das Gefühl hat, dieser sei weit weg (vgl. Lk 23,46) oder ihn nicht spürt, weil er verlassen ist. In der Verlassenheit vertraut er. In der Verlassenheit liebt er weiterhin die Seinen, die ihn allein gelassen hatten. In der Verlassenheit vergibt er denen, die ihn ans Kreuz gebracht hatten (V. 34). Hier wird der Abgrund unserer vielen Bosheiten in eine größere Liebe getaucht, so dass all unsere Spaltung in Gemeinschaft verwandelt wird.

Schwestern und Brüder, eine solche Liebe, ganz für uns, bis zum Letzten, die Liebe Jesu ist in der Lage, unsere Herzen aus Stein in Herzen aus Fleisch zu verwandeln. Es ist eine Liebe des Mitleids, der Zärtlichkeit und des Mitgefühls. Der Stil Gottes ist dieser: Nähe, Zärtlichkeit, Mitgefühl. So ist Gott. Der verlassene Christus bewegt uns dazu, ihn in den Verlassenen zu suchen und zu lieben. Denn bei ihnen handelt es sich nicht allein um Bedürftige, sondern auch um ihn, den verlassenen Jesus, denjenigen, der uns gerettet hat, indem er bis in die Tiefen unseres Menschseins hinabgestiegen ist. Er ist bei einem jeden von ihnen, verlassen bis zum Tod… Ich denke an den so genannten „Mann von der Straße“, den Deutschen, der unter den Kolonnaden starb, allein, verlassen. Er ist Jesus für einen jeden von uns. So viele brauchen unsere Nähe, so viele Verlassene. Auch ich brauche Jesus, der mich streichelt und mir nahe kommt, und deshalb gehe ich zu ihm in den Verlassenen, in den Einsamen. Er möchte, dass wir uns um die Brüder und Schwestern kümmern, die ihm in seinem extremen Schmerz und in seiner Einsamkeit am ähnlichsten sind. Heute, liebe Brüder und Schwestern, gibt es so manchen „verlassenen Christus“. Es gibt ganze Völker, die ausgebeutet und sich selbst überlassen werden; es gibt arme Menschen, die an den Kreuzungen unserer Straßen leben und deren Blicken wir nicht zu begegnen wagen; es gibt Migranten, die keine Personen mehr sind, sondern Nummern; es gibt abgewiesene Gefangene, Menschen, die als Problem katalogisiert werden. Aber es gibt auch so manchen verlassenen Christus, der unsichtbar ist und versteckt und mit weißen Handschuhen aussortiert wird: ungeborene Kinder, ältere Menschen, die allein gelassen werden – es könnte dein Vater sein, deine Mutter vielleicht, der Opa, die Oma, die in Pflegeeinrichtungen verlassen worden sind –, Kranke, die nicht besucht werden, Behinderte, die ignoriert werden, junge Menschen, die eine große Leere in sich verspüren, ohne dass jemand wirklich ihren Schmerzensschrei hört. Und sie finden keinen anderen Weg als die Selbsttötung. Die Verlassenen von heute. So mancher Christus von heute.

Der verlassene Jesus fordert uns auf, Augen und ein Herz für die Verlassenen zu haben. Für uns, die Jünger des verlassenen Herrn, darf niemand ausgegrenzt und niemand sich selbst überlassen werden; denn – denken wir daran – die Abgelehnten und Ausgeschlossenen sind lebendige Bilder Christi, sie erinnern uns an seine verrückte Liebe, an seine Verlassenheit, die uns aus aller Einsamkeit und Trostlosigkeit rettet. Schwestern und Brüder, bitten wir heute um diese Gnade: Den verlassenen Jesus lieben zu können und Jesus in jedem verlassenen Menschen lieben zu können. Bitten wir um die Gnade, den Herrn sehen und erkennen zu können, der noch immer in ihnen schreit. Lassen wir nicht zu, dass sich seine Stimme in der ohrenbetäubenden Stille der Gleichgültigkeit verliert. Wir sind von Gott nicht allein gelassen worden; kümmern wir uns um jene, die allein gelassen werden. Dann, nur dann, werden wir uns die Wünsche und Gefühle dessen zu eigen machen, der sich um unseretwillen »entäußerte« (Phil 2,7). Für uns entäußerte er sich vollkommen.

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